Helmut Newton wird 1920 unter seinem ursprünglichen Namen Helmut Neustädter als Sohn eines wohlhabenden jüdischen Knopffabrikanten in Berlin geboren. Schon früh zeigte sich, dass Helmut nicht sonderlich an Schule und am Lernen, aber an schönen Mädchen und dem Fotografieren dieser interessiert war: Mit 12 kauft er seine erste Kamera und suchte in der Berliner U- Bahn nach Motiven. Mit 15 weiß er, dass er Fotograf werden will. Sein Vater, geschäftstüchtiger Unternehmer, ist von dem Berufswunsch seines Sohnes nicht begeistert:
„Du endest in der Gosse.
Du hast nur Mädchen und Fotos im Kopf.“
Mit letzterem soll der alte Neustädter Recht behalten, doch landet Helmut nicht in der Gosse, sondern wird zu einem der berühmtesten und einflussreichsten Mode-, Akt- und Porträtfotografen des 20. Jahrhunderts.
Mit 16 fliegt Helmut Newton von der teuren, amerikanischen Privatschule im Grunewald, beginnt dann aber – dank Unterstützung seiner Mutter – eine Ausbildung zum Fotografen. Sein Handwerk lernt er bei der jüdischen Fotografin Else Ernestine Neuländer-Simon, genannt Yva, die seit den 1920ern die Szenefotografin Berlins ist. Bereits mit 25 gründete sie ihr eigenes Fotoatelier, welches sie ab 1934 in bester City-Lage am Ku’damm mit mehreren Angestellten erfolgreich betreibt. Vor allem in der Mode- und Porträtfotografie macht sie sich einen Namen, ihre Bilder erscheinen in renommierten Zeitungen und Illustrierten der Weimarer Zeit.
Yva ist Trendsetterin, experimentiert auch zum Höhepunkt ihres Erfolgs weiterhin mit Mehrfachbelichtung und unkonventionellen Kompositionen und gilt bis heute als wichtige Impulsgeberin der deutschen Avantgarde. Ihre Werke sind unter anderem in der Fotografischen Sammlung der Berlinischen Galerie vertreten und werden regelmäßig in Ausstellungen namhafter Fotomuseen gezeigt.
Leider nimmt ihr Leben nach der Machtergreifung Hitlers einen tragischen Verlauf: 1938 muss sie ihr Atelier wegen des Berufsverbots für Juden schließen, vier Jahre später werden sie und ihr Mann verhaftet, deportiert und in einem polnischen Arbeitslager von den Nazis ermordet. Obwohl er die Ausbildung bei ihr nicht abschließen konnte, bleibt Yvas Einfluss auf Newtons Arbeit bis heute unverkennbar. Newton sagte einmal über sie:
„Dass ich bei Yva lernen durfte, war der Olymp für mich. Ich verehrte sie und habe heute noch ein Selbstporträt von ihr in meinem Büro.“
Als Yvas Atelier schließt, verlässt Helmut Neustädter Europa und flieht vor den Nationalsozialisten zuerst nach Singapur und 1940 weiter nach Australien. Dort tritt er der australischen Armee bei und jobbt als LKW-Fahrer und im Eisenbahnbau. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges erhält er die australische Staatsbürgerschaft und tritt fortan unter dem Namen Helmut Newton auf, 1946 eröffnet er schließlich sein erstes eigenes Fotostudio in Melbourne. Dort lernt er auch die Schauspielerin June Brunell kennen, die für ihn Modell steht und ebenfalls fotografiert. Sie heiraten 1948 und bleiben bis zu Helmuts Unfalltod im Jahr 2004 ein Paar. June Newton ist seit den 1970ern selbst als erfolgreiche Fotografin unter dem Pseudonym Alice Springs tätig und verwaltet heute die HELMUT NEWTON FOUNDATION.
Mit seinem ersten großen Auftrag der britischen VOGUE im Jahr 1956 beginnt für Newton eine steile Karriere. VOGUE wird sein Hauptauftraggeber und er arbeitet zunehmend internationaler, seine Fotos erscheinen in der französischen, italienischen und deutschen Ausgabe und in den USA. Auch andere namhafte Frauenzeitschriften wie Elle, Harper’s Bazaar und Queen beauftragen ihn für ihre Mode-Shootings. In den 70ern ist Helmut Newton einer der teuersten Fotografen der Welt, sein erster Bildband „White Woman“ erscheint. Mode, Werbung, Akt, Porträt – niemand kommt mehr an dem „legendären Provokateur“ mit seinen zumeist schwarz-weißen, erotisch aufgeladenen und oft mit Sadomaso- und Fetisch-Subtext versehenen Bildern vorbei.
Trotz seines Weltruhms ist der „King of Kink“ aber auch einer der meist diskutierten, kontroversesten Fotografen seiner Zeit. Seine freizügigen, provokanten Darstellungen von Frauenkörpern und sein Hang zur Sittenwidrigkeit an der Grenze zur Pornographie spalteten die (vorwiegend weiblichen) Gemüter und lösten immer wieder hitzige Debatten aus. Als Ende der 80er sein Bildband „Big Nudes“ in Deutschland erscheint, heute ein Standardwerk für Aktfotografie, geht ein Aufschrei durch die feministischen Reihen.
1993 erschien in der November/Dezember-Ausgabe von Alice Schwarzers Zeitschrift EMMA ein Essay mit dem Titel „Newton: Kunst oder Propaganda?“, in dem sie maßlos mit ihm abrechnet. Seine Fotografien seien „nicht nur sexistisch und rassistisch“, sondern auch „faschistisch“, da er Bilder von Herren- und Untermenschen produziere. In zu erwartender Macho-Manier antwortet Newton darauf, dass er „Fräulein Schwarzer“ nicht kennt, aber weiß, dass sie „nicht sehr hübsch“ aussieht. Wer sich tagtäglich nur mit den Schönsten der Schönen umgibt und selbst das Bild der perfekten Frau anheizt, muss sich von einer Schrulle wie Schwarzer wohl nichts sagen lassen? Er gesteht aber ein, dass seine ‚Big Nudes’ aufgrund ihrer Stärke und Größe schon etwas Faschistisches ausstrahlen – aber nur im rein ästhetischen Sinn. In der Rezeption von Newtons Fotografien fällt jedoch auch regelmäßig der Begriff „Nazi- Ästhetik“. Besonders die „Big Nudes“ wecken Assoziationen mit den Darstellungen arischer Frauen und erinnert doch sehr an die Bronzefiguren von Hitlers Lieblingsbildhauer Arno Breker. Sie ist stark, steht dort heroisch wie sonst nur ein Mann es konnte und ist umgeben von einer eisigen, brutalen Härte, die verstört. Soll das Female Empowerment sein?
Bilder von frauen, Frauenbilder?
Doch die Frage, ob Newton Frauenfreund oder Frauenfeind war lässt sich nicht so einfach mit Schwarz-Weiß-Denken beantworten. So wie es in Newtons Fotografien verschiedenste Graustufen gibt, gibt es auch die verschiedensten Möglichkeiten, seine Werke zu interpretieren. Es steht außer Frage, dass er mit seinen Fotografien eine Maschinerie befeuerte, die wir bis heute dafür verantwortlich machen, diktatorisch ein bestimmtes Schönheitsideal für Frauen zu zeichnen. Hochglanz-Magazine wie VOGUE und Elle sind nach wie vor Marktführer im Frauenzeitschriften-Segment und tragen eine hohe Verantwortung für das Bild der Frau. Mittlerweile hat sich dieses gewandelt, es wird mehr Vielfalt geboten: Man sieht schlanke Frauen, fülligere Frauen, weiße und schwarze Frauen, Women of Color… und das ist gut so! Doch in Helmut Newtons Gesamtwerk finden sich fast ausschließlich Frauen des gleichen Typus, aus der privilegierten, weißen Oberschicht. Das hat mit einem liberalen, intersektionalen Feminismus nichts zu tun. In einem SPIEGEL-Interview von 1996 antwortete Newton auf die Frage, ob er ein Weiberfeind sei:
„Bullshit. Ich liebe die Mädels, das alles ist ein feministisches Missverständnis."
Im gleichen Gespräch sagt er aber, dass es das schönste Kompliment für seine Arbeit sei, wenn ihm ein Mann beichte, dass er auf seine Bilder masturbiert. Puh. Welch ein Armutszeugnis, wenn er sich selbst dann doch nur auf einen Produzenten von Wichsvorlagen reduziert.
Für Newton als Feminist sprechen allerdings seine Beziehungen zu Frauen im realen Leben. Die Wertschätzung für Yva, bei der er seine Ausbildung machte und wofür er sich offen zu ewigem, aufrichtigen Dank verpflichtet hat. Seine immer währende Unterstützung für seine Frau June, die er nie als Konkurrentin sah, sondern sie in ihrem fotografischen Schaffen immer unterstütze. Wahrscheinlich hätten es zu der damaligen Zeit nur wenige Männer geduldet, wenn die eigene Ehefrau einem „Männerberuf“ nachgeht und dabei auch noch einen anderen als den Namen des Mannes annimmt, um sich zu emanzipieren. Und obwohl viele von Newtons Bildern bis an die Grenzen des guten Geschmacks gehen, bleiben die Frauen bei ihm am Ende immer die Siegerinnen über ihre Würde. Sie waren keine Objekte, Newton machte sie zu Subjekten, die stark und stolz für sich selbst standen und auch ihre Sexualität frei ausleben konnten. Heute gehört sexuelle Selbstbestimmung zu einem der Kernthemen des Feminismus. Helmut Newton war damals wohl einfach seiner Zeit voraus und wurde vielleicht oft nur missverstanden. Er hat oft provoziert, und es muss Extreme und Kontroversen geben, um einen gesellschaftlichen Diskurs zu entfachen. Dafür sollte man ihm danken.
Angucken:
Zum 20-jährigen Jubiläum von Helmut Newtons monumentalem Bildband SUMO (1999 erschienen im Taschen-Verlag) wird das teuerste Kunstbuch des 20. Jahrhunderts noch bis zum 10. November 2019 zusammen mit den Ausstellungen „Three Boys from Pasadena“ von drei Schülern Newtons und der erstmals öffentlich zugänglichen privaten Fotosammlung von Helmut und June Newton in der HELMUT NEWTON FOUNDATION in Berlin gezeigt.